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Nicolaidis YoungWings Stiftung – Hilfe für junge Trauernde

Aushalten & annehmen (2)

Annehmen & aushalten

Martina, du begleitest seit nun schon 20 Jahren trauernde Erwachsene. Lana, du berätst seit 15 Jahren Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und hinterbliebene Eltern. Was habt ihr in all den Jahren über Trauer gelernt?

 

Lana Reb (LR): Mir wird immer wieder bewusst, dass Trauer etwas ganz Individuelles ist. Jeder hat seinen eigenen, besonderen Weg, mit dem Verlust umzugehen. Bei Kindern und Jugendlichen gibt es wenig, was man allgemeingültig feststellen kann. Oft kommt nicht das Verhalten, das aus Erwachsenensicht vielleicht gerade angesagt wäre. Es gibt ganz verborgene Reaktionen, die auf den ersten Blick nicht mit dem Verlust und der Trauer in Verbindung gebracht werden. Da ist es ganz wichtig, dahinter zu schauen und auch Reaktionen als Trauerreaktionen zu verstehen, die vielleicht nicht sozial erwünscht sind. Wut und Aggression zum Beispiel.

Martina Willer-Schrader (MWS): Ich erlebe immer wieder, dass es wichtig ist, Gedanken auszusprechen und Gefühle zu leben. Ich weiß auch aus eigener Erfahrung nach dem Verlust meines Vaters und meines Mannes, dass es einen Raum für die Trauer braucht. In unserer Gesellschaft gibt es dafür keine Rituale mehr, wir leben unsere Trauer zunehmend alleine. Für mich ist das der Kern von Trauerbegleitung: einen Rahmen zu bieten, indem alle Empfindungen sein dürfen. Aushalten, was da ist und nichts wegmachen zu müssen. Ich sehe mich immer als Krückstock, auf den man sich im Trauerprozess ein wenig abstützen kann.

Ist es das, was Trauerbegleitung leisten kann: mit aushalten?

LR: Ja, auch wenn sich das erstmal nach wenig anhört. Aber das ist es nicht. Ich habe erst heute Morgen wieder die Rückmeldung einer Betroffenen bekommen, wie wohltuend es ist, dass einfach jemand da ist. Jemand, dem man auch zumuten kann, dass er alle schweren Gefühle und Gedanken aushält. Viele Betroffene haben in ihrem Umfeld niemanden, der das leisten kann. Aus Kindersicht ist außerdem die Erfahrung entscheidend, dass es da noch andere gibt, die in einer ähnlichen Situation sind. Dass sie genau so angenommen werden, wie sie heute da sind. Ohne Bewertung. Das ist wertvoll, weil gerade Jugendliche oft das Gefühl haben, dass sie nicht richtig trauern und irgendetwas falsch machen.

MWS: Bei den Erwachsenen würde ich die Funktion des „Normalisierens“ noch dazu nehmen. In der Gesellschaft existiert kein Wissen mehr darüber, was in der Trauer normal ist. Wir können den Betroffenen aus unserer Erfahrung heraus sagen: „Das erleben ganz viele, diese Gedanken sind normal.“ Da kommt bei vielen die Erleichterung: Ich bin nicht verrückt. Diese Sicherheit ermöglicht oft erst, sich mit den vielen komischen Dingen abzufinden, die einem in der Trauer passieren. Man muss ja so geduldig sein mit sich selbst, weil man so anders ist, wie man sich kennt.

Lana RebDas löst natürlich große Verunsicherung aus. Was sind die häufigsten Fragen, die euch Betroffene stellen?

LR: Viele Elternteile, die zu mir kommen, haben die große Sorge, dass es bei den Kindern zu psychischen Auffälligkeiten kommt. Da kann ich oft beruhigen, denn ich habe die Erfahrung gemacht, dass Kinder und Jugendliche da gut durchkommen können, wenn sie angemessen unterstützt werden. Natürlich begleitet sie der frühe Verlust des Elternteils durch ihr Leben. Aber das kann in einer Form passieren, die nicht schädigend ist. Am Anfang kommt außerdem oft die Frage: Was ist noch normal? Wie kann ich als Elternteil unterstützen? Auch hier können wir für ein Stück Beruhigung sorgen und die Erfahrung teilen, dass gerade die Jugendlichen oft Kanäle haben, wo sie sich Hilfe holen, auch wenn ich das als Mutter oder Vater vielleicht nicht mitbekomme.

MWS: Bei Erwachsenen ist es häufig die Frage: Wird es jemals besser? Da habe ich eine Art Mantra: „Sie können sich das jetzt nicht vorstellen, aber ich habe die Erfahrung, dass das Leben wieder lebenswert wird. Gerade wenn man sich Hilfe holt.“ Ich versuche, die Hoffnung zu geben, dass die Bilder von der Krankheit, dem Tod oder schlimmen Nachrichten mit der Zeit weniger präsent sein und irgendwann auch die schönen Erinnerungen wieder Platz haben werden. Wir können auch für Erleichterung sorgen, wenn das latente Gefühl, nicht mehr leben zu wollen, ausgesprochen werden darf. Viele haben Suizidgedanken, da hilft es zu wissen, dass es anderen genauso geht.

LR: Jugendliche fragen sich: Wie gehe ich mit meiner Geschichte in der Schule um? Wie verhalte ich mich bei meinen Freunden? Was mache ich damit, dass ich mich so anders fühle? Und dann natürlich das schwierige Thema Suizidalität, mit dem wir öfter konfrontiert sind, vor allem in der Online-Beratung. Die große Frage ist: Inwieweit ist das normal, inwieweit gehört das zum Trauerprozess dazu?

Häufig kommt auch das Thema „Vergessen“. Wie gelingt es mir, eine Verbindung zum Verstorbenen aufrechtzuerhalten? Wie gebe ich ihm einen Platz in meinem Leben?

MWS: Diese Fragen tauchen in fast jedem Trauerprozess auf. Am Anfang drängen sie sich die Erinnerungen auf, dann sind sie plötzlich weg und das macht Angst. Ich arbeite da gerne mit einem bestimmten Bild: Erinnerungen sind wie eine Schublade, ich kann sie jederzeit auf und zu machen. Ich versuche, die Gewissheit zu geben, dass die Erinnerungen nicht verschwinden und ich irgendwann wieder die Kontrolle darüber habe, welche Bilder ich wann zulasse.

Lange Zeit galt in der Trauerbegleitung das Ziel: Loslassen. Heute verfolgt die Stiftung eine ganz andere Haltung: Der Verstorbene darf einen festen Platz im weiteren Leben einnehmen, die Verbindung bleibt bestehen. Hat sich diese Haltung gesellschaftlich etabliert oder sind Betroffene immer noch mit einem anderen Anspruch konfrontiert?

LR: Die meisten Trauernden bekommen nach wie vor den Rat, dass sie loslassen und Platz für was Neues schaffen müssen. Damit verbunden ist die Idee, dass der Verstorbene weg sein muss, damit das Leben neu gestaltet werden kann. Aus fachlicher Sicht ist das keine sonderlich alte Vorstellung. Auch wir als Stiftung haben uns da entwickelt und verfolgen heute den Ansatz, dass Trauernde die Verbindung halten dürfen und neu definieren müssen. Diese Haltung erlebe ich als ganz große Entlastung: Ich muss mich als Hinterbliebener nicht komplett verabschieden, sondern ich darf den Kontakt aufrechterhalten.

MWS: Ich habe oft erlebt, dass Betroffene einen neuen Partner haben und gleichzeitig in die Trauergruppe gehen. Das zeigt: Trauer und Neuorientierung kann und darf parallel stattfinden. Diese Beispiele machen ganz deutlich, dass man nichts wegnehmen muss, damit etwas Neues beginnen kann.

LR: Das ist auch für die Kinder ganz entscheidend. Vor allem dann, wenn ein neuer Partner in das Leben der Mutter oder des Vater tritt. Kinder müssen wissen, dass sie die Neue oder den Neuen mögen dürfen – ohne, dass dadurch Liebe von dem Verstorbenen abgezogen wird.

Martina Willer-SchraderDie Beispiele und Fragen zeigen, dass ihr in eurer Arbeit seit vielen Jahren unweigerlich mit sehr schweren Themen konfrontiert seid.

MWS: Eine gewisse Schwere ist natürlich da. Aber es ist auch eine schöne Arbeit. Wir machen den Verlust nicht ungeschehen, aber das Leben der Betroffenen wird wieder gut und lebenswert. In den allermeisten Fällen begleiten wir eine positive Entwicklung.

LR: Ja, es ist ein existentielles, schweres Thema, mit dem wir uns beschäftigen. Aber ich empfinde es auch als Geschenk, in diesem Bereich zu arbeiten. Mich hat die Arbeit persönlich vorangebracht: Ich lebe sehr bewusst und genieße das pralle Leben. Das ist auch ein wichtiger Baustein hier in der Trauerbegleitung: Wir bringen das Lebensbejahende in die Begleitungen mit hinein.

MWS: In unseren Gesprächen und Gruppen lachen wir ja auch, da hat Humor sehr viel Platz. Es gibt diese gesellschaftliche Vorstellung, dass alle Trauernden mit eingefallenen Gesichtern tief betrübt herumsitzen. Im Umfeld sind viele irritiert, wenn Betroffene humorvoll sind. Bei uns ist der Raum, wo die Freude neben dem Schmerz gelebt werden kann.

Wenn ihr zurückblickt: Gibt es besonders berührende Geschichten, an die ihr euch erinnert?

LR: Sehr berührt hat mich die Geschichte eines fünfjährigen Mädchens. Die Mutter war verstorben, der Vater nicht präsent. Das Mädchen war dabei als die Mama verstarb, sie war bei der Trauerfeier und der Beerdigung. Die Oma kam zu mir in die Beratung, weil sie sich gewundert hat, dass das Mädchen so gar nicht reagiert. Irgendwann kam raus, dass dem Mädchen niemand erklärt hat, dass die Mama gestorben ist. Das ist mir nachhaltig in Erinnerung geblieben, weil es so deutlich macht, wie wichtig es ist, dass Kinder von Erwachsenen Erklärungen bekommen und der Erfahrung nicht einfach nur ausgesetzt werden.

MWS: Ich erinnere mich an eine Frau, die längere Zeit bei uns in Begleitung war. Später rief sie mich an, weil sich gerade der Vater erschossen hatte. Sie war vor Ort, noch umgeben von lauter Rettungskräften. Das Beispiel hat mir gezeigt, dass wir mit den Betroffenen oft eine ganz enge Beziehung aufbauen, die dann im Notfall wieder reaktiviert werden kann. Daneben haben mich die Worte eines Mannes berührt, der lange in einer Trauergruppe war. Er saß immer ganz still bei unseren Treffen, fast unbeteiligt, und hat selten etwas gesagt. Irgendwann hat er sich aus der Gruppe verabschiedet, mit dem Satz: „Ihr habt mir das Leben gerettet.“