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Nicolaidis YoungWings Stiftung – Hilfe für junge Trauernde

Wandern wirkt

 

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Wandern ist gesund – sagt die Wissenschaft. Ach was. Neuerdings aber wächst die Erkenntnis, dass gesund nicht nur unseren Körper meint, sondern auch die Psyche. Wie Wandern in der Trauer helfen kann.

Ein Tag draußen, frische Luft, Gedanken fließen unangestrengt durch unseren Kopf. Die Anstrengung pulsiert uns Lebendigkeit in sämtliche Poren. Der Weg bis zur nächsten Pause, wenig sonst ist wichtig im Moment. Vielleicht noch das Wetter, die Brotzeit, der Schlafplatz. Essentielles, manchmal sogar Existentielles, beansprucht die volle Aufmerksamkeit. Am Abend dann flutet warme Erschöpfung unsere Glieder. Die Sonne hat uns Röte auf die Backen gemalt, der Kopf ist schwer und angenehm leer.

Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass uns Erfahrungen wie diese in Krisenzeiten guttun können. Systematisch wurde die Wirkung von Wanderungen auf die Psyche allerdings lange nicht untersucht. In den letzten Jahren beförderten zahlreiche Studien endlich Fakten zutage. Und die sind eindeutig: Wandern verbessert unser Wohlbefinden zuverlässiger als so manche Tablette. Eine Studie eines österreichischen Forschungsteams etwa konnte zeigen, dass bereits eine einzige Wanderung von etwa drei Stunden die psychische Gesundheit positiv beeinflusst. „Nach der Aktivität wurde ein signifikanter Anstieg der Stimmung und der Gelassenheit registriert. Negative Gefühle wie Energielosigkeit und Angst sanken markant“, erklären die Wissenschaftler um Prof. Martin Kopp von der Universität Innsbruck. Forschern zufolge sind vor allem drei Faktoren verantwortlich für die heilsame Wirkung des Wanderns: Bewegung, Natur und Mitmenschen. Und kaum eine andere Freizeitbeschäftigung verbindet diese bewährten Zutaten für seelisches Wohlbefinden so gut, wie das längere Gehen in einer Gruppe.

Klug- und Zufriedenheit

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So ist die Liste der Wohltaten, die Sport unserem Gehirn bescheren soll, ebenso lang wie beeindruckend: Immer mehr Forschungsbefunde zeigen, dass Bewegung unser Gehirn vor psychischen Erkrankungen schützt, unsere kognitive Leistungsfähigkeit steigert, außerdem das Arbeitsgedächtnis, die Konzentration und die räumliche Orientierung stärkt. Noch wertvoller als Klug- ist aber vermutlich Zufriedenheit – die zweite Wohltat, die Bewegung an der frischen Luft unserem Kopf beschert. Sportliche Menschen fühlen sich wohler, sind selbstbewusster und machen sich weniger Sorgen. Vor allem, wenn sie in ihrer Freizeit auf moderate Ausdauerbelastungen setzen und Bewegungsformen nachgehen, die wenig Konzentration erfordern – wie etwa beim Wandern. „Dann fängt der Geist an, sich mit sich selbst zu beschäftigen“, so der Hirnforscher Frieder Beck.

Wir nehmen andere Perspektiven ein und finden eine neue Sicht auf alte Probleme. Das Stresshormon Korisol wird abgebaut und die innere Unruhe weicht. Gleichzeitig nehmen wir unsere Atmung, unseren Puls, das Zwicken im Knie deutlich wahr und lernen unseren Körper besser kennen. Fordern wir uns dagegen und gehen an unsere Grenzen, richtet sich der Fokus ganz auf das gegenwärtige Tun. Belastende Gefühle wie Angst und Frustration drängen sich bisweilen auf und zwingen uns, Lösungen dafür zu finden. Wir übernehmen Verantwortung für uns selbst und machen die Erfahrung, dass wir Hürden bewältigen können.

Widerstandsfähigkeit durch Wandern

Angesicht dieses Potentials kommt Sportpsychologe Jens Kleinert, Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln, zu dem Schluss: „Sportaktivität kann die Widerstandsfähigkeit gegen äußere Stressoren stärken und es kann ein positives Selbstbild entstehen.“ Vor allem dann, wenn wir den Schritt vor die Tür wagen. Denn schon vor über hundert Jahren stellte John Muir fest: „Tausende nervenschwache, überzivilisierte Menschen finden allmählich heraus, dass man nach Hause kommt, wenn man in die Berge geht; dass die Wildnis lebensnotwendig ist und dass Naturparks und Schutzgebiete nicht nur zur Holzversorgung und als Wasserreservoirs taugen, sondern als Quell des Lebens.“

Heute ist wissenschaftlich untersucht, was der amerikanische Naturphilosoph damals bereits wusste: Die Natur stärkt uns. Forscher benennen zahlreiche positive Auswirkungen, die schon ein kurzer Aufenthalt im Grünen mit sich bringt. So hatten Probanden, die etwa in Parks spaziert waren, Stress besser verarbeitet und eine positivere Einstellung gefunden. Sie waren zufriedener, erholter und selbstbewusster, als die naturfernen Kollegen der Vergleichsgruppen. Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Reize der Natur genau unseren Bedürfnissen entsprechen und uns weder über- noch unterfordern.

Zusammen ist man weniger allein

Das Sonnenlicht schenkt Vitamin D und sorgt damit für bessere Laune. Das Wellenspektrum der vorherrschenden Farben – grün, blau, braun – entspannt zusätzlich unser Gemüt. Der Grund für diese Effekte, so vermuten die Forscher, liegt in unserem evolutionären Erbe. Im Laufe der Jahrtausende habe der Mensch eine innige Beziehung zur Natur – seiner Lebensgrundlage – aufgebaut. Bewegen wir uns draußen, ist das also artgerechtes Verhalten. Artgemäß ist außerdem, wenn wir uns zu Rudeln zusammenrotten und gemeinsam durch die Landschaft streifen. Menschen suchen und brauchen Gesellschaft – und finden sie beim Wandern. Umfragen zufolge machen sich rund 90 Prozent aller Wanderer gemeinsam mit anderen auf den Weg.

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Nebeneinander gehend werden elementare soziale Bedürfnisse bedient. Wir teilen Erlebnisse und Eindrücke, öffnen uns den Gefährten bei scheinbar beiläufigen Gesprächen und kommen so nicht nur uns selbst, sondern auch den Begleitern näher. In schwierigen Situationen erfahren wir Unterstützung, Zuspruch und Beistand. Der Weg durch Tiefen und über Höhen schweißt uns schwitzend zusammen. So gilt für das Wandern, was Sportwissenschaftlerin Dr. Jo Barton und Umweltforscher Prof. Jules Pretty von der University of Essex nach ausgiebigen Studien folgern: „Bewegung in der Natur ist eine leicht verfügbare Therapie ohne offensichtliche Nebenwirkungen.“

Und was bedeutet das nach dem Verlust eines geliebten Menschen?

Die Trauer erleben wir oft als innere Erstarrung. Wir fühlen uns wie versteinert, ganz isoliert und aus der Zeit geworfen. Wandern kann diese Erstarrung lösen. Beim Gehen kommt nicht nur der Körper in Bewegung, sondern auch der Kopf und die Seele. Durch die Bewegung spüren wir unseren Körper, fühlen wir uns lebendig und können am Ende des Tages stolz sein, eine lange Strecke zu Fuß bewältigt zu haben.

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Gedanken dürfen jederzeit kommen und auch wieder gehen. Die Trauer bekommt Zeit und Raum, ohne dass wir zu einer Auseinandersetzung gezwungen werden. Manchmal verlieren Erinnerungen, Vorwürfe und Schuldgefühl ihre Gewalt, angesichts der vorbeiziehenden Landschaft um uns herum. Mit allen Sinnen tauchen wir ein in unsere Umgebung. Blühende Sträucher, modernde Baumstämme, zwitschernde Vogelstimmen erinnern uns in ihrem Werden und Vergehen an den tröstlichen Kreislauf der Natur. Trauernde können sich als Teil eines größeren Kosmos erleben – und für einen Moment heraustreten aus der schmerzhaften Realität nach dem Verlust.

Gehen wir mit anderen ein Stück des Weges gemeinsam, haben wir Zeit, uns auszutauschen oder innezuhalten. Wir gehen nebeneinander oder allein, haben mitfühlende Gesellschaft oder Zeit, in uns selbst zu versinken. Wir erfahren Solidarität und Gemeinschaft in der Gruppe und bewältigen gemeinsam die Herausforderungen des Weges. Wir strengen uns an und kehren gestärkt zurück.