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Nicolaidis YoungWings Stiftung – Hilfe für junge Trauernde

Auf einem sinkenden Boot


Auf einem sinkenden Boot WaiseWaise – der Begriff ist für die Menschen wohl mit unterschiedlichsten Emotionen und inneren Bildern verbunden. Anderen Bildern vermutlich als die von den 20 jungen Erwachsenen, die sich in alle zwei Wochen im Rahmen unserer Selbsthilfegruppen treffen und den Verlust eines oder beider Elternteile betrauern. Sie stehen nach dem Verlust von Vater und/oder Mutter oft vor ganz besonderen Herausforderungen. Ramona, seit zwei Jahren Teilnehmerin unserer YoungChange Selbsthilfegruppe, lässt uns teilhaben an ihren Erfahrungen mit einer Welt, die sich nach dem Tod ihrer Mutter komplett auf den Kopf gestellt hat.

Es gibt Ereignisse im Leben, die so einschneidend und schwerwiegend sind, dass wir das Leben von da an in ein „vorher“ und ein „nachher“ einteilen. Im „Nachher“ ist plötzlich alles ganz anders, wir stehen vor neuen Herausforderungen, nicht gekannten Problemen und Gefahren. Wir verstehen nicht, wieso sich in kurzer Zeit unsere Sichtweise auf die Welt drastisch geändert hat und sehnen uns nach dem Leben im „Vorher“ zurück. 

Einer dieser tiefgreifenden Momente war für mich der Tod meiner Mutter. Wenige Wochen zuvor hatten wir noch ausgelassen ihren 50. Geburtstag gefeiert und einen Abend vor ihrer plötzlichen Einlieferung ins Krankenhaus gemeinsam über die kleinen Sorgen und Nöte des Alltags gesprochen. Nie wäre uns in den Sinn gekommen, dass dies unser letztes Telefonat war, unsere letzten gemeinsamen Minuten. An unsere letzten Worte kann ich mich nicht mehr genau erinnern – dafür weiß ich umso deutlicher, wie mein Vater mich am nächsten Morgen anrief und mir mitteilte, dass meine Mama auf der Intensivstation mit einer schweren Gehirnblutung liegt. Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit im Krankenhaus angekommen bin, traute ich meinen Augen nicht: Meine Mutter, die immer pure Lebensfreude ausstrahlte und deren Energie schier unerschöpflich war, lag dort mit rasiertem, schwer deformiertem Kopf und war durch die vielen Schläuche, Klammern und Blutreste nicht wiederzuerkennen.

Tage und Wochen in Trance
Sie so hilflos und verletzt im Krankenhausbett liegen zu sehen, ist bis jetzt der schlimmste Moment meines Lebens. Einem Menschen, den man liebt, nicht helfen zu können und zusehen zu müssen, wie er leidet, zeigte mir deutlich die Grenzen meiner eigenen Möglichkeiten auf. Das Gefühl der Ohnmacht überwältigt mich bis heute. Selbst die Beerdigung und die vielen traurigen Momente danach habe ich nicht also so schockierend und so endgültig erlebt, wie der Anblick dieser schwerverletzten Patientin, die meine Mutter sein sollte.

Wie in Trance verbrachten wir die ersten Tage und Wochen nach ihrem Tod. Zum Glück mussten zunächst organisatorische Themen erledigt werden: Eine Beerdigung, eine Grabstätte und viele weitere, kleinere Dinge waren zu planen. Sie alle halfen, das Erlebte zu begreifen. Außerdem musste ich mich um mein Studium kümmern: Ich stand wenige Monate vor dem Abschluss und meine Masterarbeit musste bis zum bereits festgelegten Abgabetermin fertig werden. Parallel dazu musste ich mir meine erste Stelle nach dem Studium suchen und nebenbei noch meinem Nebenjob nachgehen. Das alles unter einen Hut zu bringen, wäre ohne die starken Trauergefühle, die ein paar Wochen nach der Beerdigung einsetzten, ohnehin schon schwer genug gewesen. Nun machte sich in mir jedoch eine so tiefe Traurigkeit und Wut auf die ganze Welt breit, dass ich an einigen Tagen nur mit größter Anstrengung überhaupt aus dem Bett kam.

Lähmende Trauer
Auf einem sinkenden Boot KerzeZudem machte ich die Erfahrung, dass das eigene Umfeld genauso mit der neuen Situation zu kämpfen und jeder seine eigene Art zu trauern hat. So begann mein Vater, die Vergangenheit zu idealisieren und sich selbst zu bemitleiden. Ihn auf der einen Seite zu unterstützen und auf der anderen Seite mit meiner eigenen Trauer zurechtzukommen, war ein schwerer Spagat, der manchmal funktionierte und an anderen Tagen überhaupt nicht klappte. Besonders schmerzhaft waren dabei die Vergleiche, die mein Vater zwischen mir und meiner Mutter zog, wenn ich etwas nicht genauso (gut) wie sie im Elternhaus erledigte. Heute weiß ich zwar, dass das sicherlich nicht aus Bosheit geschah, sondern Ausdruck seines eigenen Schmerzes war. Dennoch verletzte es mich, da ich mich neben dem Studium und nach meinem Berufseinstieg sehr bemühte, ihm im mehr als zwei Stunden entfernten Elternhaus zu helfen. 

Bei meinen Freunden und Bekannten erkannte ich, dass Trauer das eigene Umfeld mindestens genauso lähmen kann wie den Betroffenen selbst. Kurz nach der Beerdigung bekam ich zwar die typischen „Ich bin für dich da“- oder „Du kannst dich jederzeit bei mir melden“-Versprechen zu hören, doch nach wenigen Wochen war das bei den meisten vergessen. In der akuten Trauerzeit, die bei mir etwa ein bis eineinhalb Jahre dauerte, habe ich mich deswegen oft in mich selbst zurückgezogen, um das Erlebte besser zu verarbeiten.Für mich war ohnehin die Zeit stehen geblieben und ich konnte nicht verstehen, wie andere Menschen einfach so mit ihrem Leben, ihren Hobbys und ihren Gewohnheiten weitermachen konnten, wenn doch so ein geliebter und wichtiger Mensch plötzlich fehlte. Meine Uhr war mit dem Tod meiner Mutter stehen geblieben und meine Welt so aus den Angeln gerissen, dass ich erst mal versuchen musste, mich in dieser neuen, fremden Welt zurechtzufinden.

Abschied von der Kindheit – und der besten Freundin
Schließlich musste ich mich nicht nur von meiner Kindheit verabschieden, sondern auch von der jüngsten Vergangenheit, in der meine Mutter nicht mehr nur Erziehungsperson, sondern vor allem meine Freundin war. Wenn ich etwas alleine unternahm, dass ich früher immer mit ihr gemacht hatte, sank ich in ein tiefes emotionales Loch, weil das Gefühl, dass es „so nicht richtig ist“ und das jemand fehlte, übermächtig war. Nach und nach realisierte ich auch, dass ich nicht nur meine Kindheit verloren hatte, sondern auch meine Zukunft, in der meine Mutter nun nie wieder vorkommen würde. All diese Dinge, die man im Leben als junger Erwachsener noch vor sich hat, werde ich nicht zusammen mit ihr erleben können: keinen Geburtstag, kein Weihnachten, nicht mal einen Tag oder eine einzelne Stunde mehr mit ihr. Nie wieder werde ich jemanden als Mama bezeichnen können. Man mag einen neuen Partner, neue Freunde, neue Haustiere finden, aber die Lücke, die die eigenen Eltern hinterlassen, kann von niemand anderem gefüllt werden. Selbst meine Kinder werden keine Oma haben, mein Mann keine Schwiegermutter – das Gefühl dieser Endgültigkeit und der Gedanke an diese verlorene, nie gelebte Zukunft lastete schwer auf meinen Schultern.

Besonders im ersten Trauerjahr wurde ich oft von meinen Gefühlen und all diesen bedrückenden Gedanken überwältigt: Wie viele Abende und Nächte ich mich in den Schlaf geweint habe, kann ich gar nicht mehr sagen, weil die Erinnerung daran verschwommen ist. Meine Träume waren voller Erinnerungen, gemischt mit den schlimmen jüngsten Erlebnissen. Wenn ich meine Mutter im Traum sah, war es so, als wäre sie noch am Leben – die bittere Erkenntnis kam erst beim Aufwachen und war immer wieder ein Schock für mich. Würde es eine Möglichkeit geben, jemanden im Traum festzuhalten – ich hätte sie genutzt, um nicht mehr von ihr getrennt zu sein.

Sinkendes Boot

Scham und Verzweiflung
Nie wäre ich in diesen traurigen Momenten auf die Idee gekommen, mich bei einem Freund zu melden. Diese Niedergeschlagenheit und diesen Kummer wollte ich niemandem zumuten. Dabei hätte ich mir oft einen Anruf von meinen Freunden gewünscht... ein Teufelskreis, denn so wie ich aus Scham und Verzweiflung nicht auf andere zugehen konnte, so konnten viele meiner Freunde aus Angst, etwas falsch zu machen, auch nicht auf mich zu gehen. Nach und nach versuchte ich jedoch wieder am „normalen“ Leben teilzuhaben. An einigen Tagen lief das auch ganz gut, dann gab es wieder Abende, an denen ich mich selbst in der Gesellschaft von Freunden schrecklich einsam und verlassen fühlte.

Besonders zwei Ereignisse sind mir dabei schmerzhaft in Erinnerung geblieben: Einmal stellte mir eine Freundin frisch verliebt ihren neuen Freund vor und erwartete von mir, dass ich mich mit ihr freue. Es war kurz vor meinem Geburtstag und ich fühlte mich schrecklich leer, niedergeschlagen und hatte auch Angst davor, den ersten Geburtstag ohne meine Mama zu „feiern“. So habe ich meiner Freundin zwar aufrichtig Glück gewünscht, aber echte Freude konnte ich nicht für sie empfinden. Im Gegenteil. In diesen Momenten, in denen deutlich wurde, wie glücklich das eigene Umfeld ist, fühlte ich mich, als würde ich in einem kleinen Boot auf einem See sitzen. Als würden alle Menschen um mich herum Spaß haben und ihr Leben leben, während mein Boot sinkt und ich langsam mit in die Tiefe gezogen werde. Erst als ich nach und nach in der Lage war, auch wieder Glück in meinem eigenen Leben zu erkennen, und sei es nur ein schöner sonniger Tag oder ein paar unbeschwerte Stunden, konnte ich mich wieder für andere freuen und war nicht mehr wütend auf das Glück der anderen.

„Eigentlich ist nichts passiert“
Ein anderes Mal war ich – etwa ein Jahr nach dem Tod meiner Mutter – mit einer Freundin unterwegs und gestand ihr, dass es mir „immer noch“ sehr schlecht ginge, ich sie sehr vermisste und einfach oft nicht wüsste, wie mein Leben ohne sie weitergehen soll. Darauf meinte meine Freundin, die bis dahin immerhin versucht hatte, etwas Verständnis für mich aufzubringen, dass sie es überhaupt nicht nachvollziehen könne, wieso es mir nicht gut ginge, denn mir sei ja eigentlich nichts passiert – schließlich sei nicht ich diejenige, die gestorben ist.

Auf diese Aussage weiß ich bis heute, fast drei Jahre nach dem Tod meiner Mutter, immer noch keine passende Antwort. Inzwischen macht mich diese Einstellung sogar noch fassungsloser. Denn seitdem ich selbst erlebt und gefühlt habe, was es bedeutet, jemanden für immer zu verlieren, kann ich mich besser in Menschen einfühlen, denen auch Schlimmes widerfahren ist. Außerdem habe ich den Wunsch in mir, anderen trauernden Menschen zu helfen und ihnen zu zeigen, dass es im Leben auch wieder andere Zeiten geben wird – so unwahrscheinlich einem das auch vorkommen mag. Ich habe selbst nicht daran geglaubt, dass ich jemals wieder ein Licht am Ende dieses langen Tunnels, der voller Schmerz, Wut und Trauer ist, sehen werde. Aber mit der Zeit haben sich die starken Trauergefühle abgeschwächt, die Zeit der „guten“ Tage wurde wieder länger und irgendwie habe ich so Schritt für Schritt wieder ins Leben zurückgefunden.

Kraft, Mut und einen Blick für kleine Freuden
Auf einem sinkenden Boot PusteblumeAn dieser Stelle ist es nun auch Zeit, Danke zu sagen. Ich hatte das große Glück, dass ich mich einer Trauergruppe anschließen konnte und dort Menschen kennengelernt habe, denen Ähnliches wie mir passiert ist. Für mich war und ist dieser Austausch mit Gleichgesinnten, die ebenfalls in jungen Jahren ihre Eltern oder ein Elternteil verloren haben, für meinen eigenen Trauerprozess sehr wichtig. Dort habe ich das Gefühl, ohne viele Worte verstanden zu werden, ich erkenne in den anderen Geschichten meine eigene wieder. Durch die intensive Auseinandersetzung mit Menschen, die bereits ein Stückchen mehr auf ihrem Weg gegangen sind oder noch einen großen Teil des Weges vor sich haben, gewinne ich ein tiefes Gefühl von Gelassenheit, Vertrauen und Dankbarkeit.

Mit einigen Aspekten der Trauer habe ich dennoch auch heute noch zu kämpfen und ich bin mir sicher, dass die Trauer mich auch weiterhin begleiten wird. Sie verändert sich ständig, aber sie ist irgendwo in mir immer da und erinnert mich daran, welche Kämpfe ich ausgetragen und vielleicht sogar gewonnen habe. Wenn ich heute eine schwere Zeit habe, kann ich diese wesentlich einfacher akzeptieren und darauf vertrauen, dass es morgen schon wieder anders sein kann. Ich weiß, dass egal in welcher Krise ich auch stecke, ich auf meine Kraft, meinen Mut und meinen Blick für die kleinen Freuden des Alltags bauen kann. Damit bin ich in der Lage, selbst in den dunkelsten Momenten darauf zu vertrauen, dass es wieder besser wird. Ich weiß, dass ich selbst für mein Glück verantwortlich bin und ich es in der Hand habe, die notwendigen Maßnahmen zu treffen und umzusetzen, um meine Ziele zu erreichen.

Platz für Dankbarkeit
Die Trauer hat mich auch gelehrt, dass es egal ist, wie viele Freunde oder Bekannte man hat. Das Entscheidende ist die Qualität der Beziehung. Heute öffne und vertraue ich mich nur noch Menschen an, von denen ich weiß, dass sie für mich da sind, wenn es mir wirklich schlecht geht. Oberflächliche Bekanntschaften empfinde ich als Zeitverschwendung, denn Zeit ist die wertvollste Ressource und ich versuche, sie mit so vielen wertvollen Momenten zu füllen wie möglich.Damit das gelingt, setze ich Prioritäten und erinnere mich selbst immer wieder daran, was wirklich wichtig ist im Leben. So bin ich für die Liebe und Freundschaft zu Menschen, die mit mir schweigen, lachen oder weinen, heute unendlich dankbar und weiß, dass es diese Beziehungen sind, die mein Leben lebenswert machen.

Ich bin auch sehr dankbar dafür, dass ich überhaupt so viel Zeit mit meiner Mutter verbringen durfte, dass wir einander nahestanden und dass ich trotz ihres Todes noch oft das Gefühl habe, mit ihr verbunden zu sein.

Eines Tages werden wir uns wiedersehen

Auf einem sinkenden Boot Hoffnung

Gerne möchte ich mich über all diese Dinge persönlich mit ihr unterhalten – ihr sagen, was ich alles durch ihren Tod gelernt habe, wie sich mein Leben durch diesen Verlust verändert hat... dass ich zwar meine Unbeschwertheit verloren, dafür aber mehr Tiefe gewonnen habe. Zu gerne stelle ich mir vor, dass sie jetzt irgendwo fern von Schmerz und Leid ist und diese Zeilen liest, die auch eine Liebeserklärung an sie als Mutter und Freundin sein sollen, und ein wenig stolz auf ihre Tochter ist. Ich hoffe und vertraue darauf, dass wir uns eines Tages wiedersehen und uns gemeinsam zu unseren Erfahrungen austauschen können. Bis dahin versuche ich so gut es geht die Erinnerung an sie fest in meinem Herzen aufzubewahren.

Ich wünsche allen Trauernden, die auch einen geliebten Menschen verloren haben, dass sie ihren Weg durch die Trauer finden und mit Mut die vielen neuen Herausforderungen angehen. Ich hoffe, dass auch sie das Glück haben, sich in der Gemeinschaft mit anderen über ihre Trauer austauschen zu können und so den Glauben an bessere Zeiten und ein Wiedersehen in einer anderen Welt nicht verlieren.

Es würde mich sehr freuen, wenn ich durch meine Geschichte auch nur einem einzigen Menschen ein kleines Stück Hoffnung geben und Trost spenden konnte.